abgeschnitten
der verlust des zwillingsbruders, der zwillingsschwester ist ein besonders einschneidendes, auch „abschneidendes"
ereignis im leben des verbliebenen. ich möchte hier und auf den folgeseiten meine ganz persönliche zwillingsgeschichte erzählen:
stefan und andreas gibt es leider nicht mehr. ich bin andreas buchholz, geboren 1961, und lebe seit 1984 ohne stefan, meinen eineiigen zwillingsbruder, jenen in die wiege gelegten
seelenverwandten. dieser nahm sich im alter von 22 jahren mit hilfe von schlaftabletten das leben.
was bedeutete und bedeutet das für mich?
die gefühle nach stefans selbstmord waren äußerst zwiespältig. zum einen war da natürlich trauer. trauer über den verlust der vertrautheit, die worte so unwichtig machte. zum anderen war da
– fast vom ersten moment an – das gefühl der erleichterung. denn ich konnte nun aus dem langen schatten meines zwillingsbruders treten, ja ich muss es so formulieren: ich konnte anfangen zu leben.
hätte er sich nicht umgebracht, so hätte ich es wohl an mir tun müssen. denn bei aller liebe und innigkeit waren die konkurrenzgefühle zwischen uns offenbar so stark, dass einer für den anderen platz
machen musste.
schuld, wut und trost
aus diesem grund mischten sich zwischen trauer und erleichterung auch schuldgefühle. hatte stefan sich für mich geopfert? oder hatte er motive, die mit mir gar nichts zu tun hatten? wut! wie
konnte er mich derart ausschließen? sich so über mich erhöhen? (dieses gefühl hatte ich ohnehin – vielleicht zu unrecht – schon zu seinen lebzeiten gehabt.) trost in der trauer gab mir in den ersten
jahren stets der gedanke, dass wir an ein leben nach dem tod geglaubt hatten. ich klammerte mich also an die idee, dass stefan noch irgendwo und irgendwie da ist, ja sogar einseitigen kontakt zu mir
hält. inzwischen kann ich daran (leider) nicht mehr so recht glauben.
wer bin ich?
heute, jahrzehnte nach stefans tod (ich lebe jetzt viel länger „allein“ als mit ihm zusammen), habe ich noch immer das empfinden, keine eigen- und vollständige person, sondern „beschnitten"
zu sein. er erscheint mir noch manchmal im traum (und dann ist er wie selbstverständlich wieder da und mit ihm die konkurrenz). ich vermisse die innigkeit und vertrautheit in meinen heutigen
beziehungen. ich habe bis heute nicht gelernt zu kommunizieren, weil stefan unser „sprecher" war. insgesamt muss ich sagen, dass ich all die trauer und die anderen gefühle nicht verarbeitet
habe. ich fühle mich verloren. wie gerne würde ich stefan zeigen, dass bob dylan, unsere gemeinsame leidenschaft (kurz vor stefans tod hatten wir noch shows in offenbach und berlin besucht), selbst
im hohen greisenalter noch platten (nein: cd) aufnimmt und live auftritt. wie gern würde ich ihm vor allem meine familie vorstellen…
was will ich hier?
ich betrachte diesen raum im internet in erster linie als gedenkstätte für stefan, die ich immer wieder aufsuche. ich freue mich darüber hinaus über jedes interesse an unserer geschichte. auch
wer selbst einen zwilling verloren hat, kann sich gern bei mir melden, um erfahrungen auszutauschen.